4GAMECHANGERS: „Keine Ärzte, keine Termine – wir haben ein Strukturproblem!”

Auch heuer wieder nutzte die Diabetes Initiative Österreich die 4GAMECHANGERS HEALTH TALKS als Bühne, um aktuelle Themen im Zusammenhang mit der Volkskrankheit Diabetes öffentlich zu diskutieren. In einer ersten Podiumsdiskussion ging es unter anderem um die Frage, ob digitale Anwendungen die knapper werdenden Personalressourcen in der ärztlichen Versorgung kompensieren können.

Wochenlanges Warten auf Termine, übervolle Ambulanzen und zu wenig Zeit, wenn man dem Arzt oder der Ärztin endlich gegenübersitzt – für viele, gerade für chronisch kranke Menschen eine wiederkehrende Erfahrung. Von knappen Personalressourcen wissen auch die Gesundheitsanbieter zu berichten, und das nicht erst, seit Corona die Krankenstände in die Höhe treibt und Spitäler und Ordinationen an die Kapazitätsgrenzen bringt.

Auf der anderen Seite hat die COVID-Pandemie Einiges in Bewegung gebracht, was vor wenigen Jahren noch unverrückbar schien, so etwa die elektronische Krankschreibung oder die verstärkte „telemedizinische“ Interaktion via Telefon oder E-Mail, um den Patient:innen den Besuch in der Ambulanz oder Ordination zu ersparen. Die Pandemie hat aber auch bestehende Strukturprobleme im österreichischen Gesundheitswesen offengelegt.

System nicht auf Versorgung chronisch Kranker ausgelegt

Einige dieser Strukturprobleme benennt DIÖ-Präsident Thomas Wascher gleich zu Beginn der Diskussion: eine regional „unglaubliche Ungleichverteilung medizinischer Ressourcen“, eine Medizin, die primär auf die Lösung akuter Probleme ausgerichtet ist und nicht auf die Langzeitversorgung chronisch kranker Menschen, und schließlich die Tatsache, dass es in vielen Bereichen immer mehr Betroffene gibt, denen immer weniger verfügbare Ressourcen gegenüberstehen. Diabetes sei da eine „prototypische Erkrankung“, so Wascher, Ähnliches gelte aber auch für chronische Atemwegserkrankungen und chronische Schmerzen, die einen Gutteil der Arbeit in der Primärversorgung ausmachen.

Viele Ärzt:innen am Land gehen in Pension

Ein zentrales Problem im ländlichen Raum schildert Christian Ciardi, Internist und Leiter der  Diabetesambulanz im Krankenhaus St. Vinzenz Zams in Tirol: Kolleginnen und Kollegen, die in Pension gehen und deren Praxen teilweise nicht oder erst nach langer Zeit nachbesetzt werden. Die Patient:innen müssen in der Folge auf andere Mediziner:inner in der Niederlassung aufgeteilt werden – was dazu führt, dass für die Einzelnen immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Auf der andere Seite sei der der ländliche Bereich mehr als der urbane Raum durch „kurze Wege“ innerhalb der Häuser und zwischen dem intra- und extramuralen Bereich charakterisiert. So könne man leichter niederschwellige Versorgung anbieten, sagt Ciardi und resümiert: „ich glaube, das könnte ein Lösungsansatz sein, wie man das Strukturproblem in den Griff bekommt.“

Agnes Loidl arbeitet, ebenfalls in Tirol, seit vielen Jahren als Diabetesberaterin sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Für sie ist das Versorgungsproblem vor allem außerhalb der Spitäler spürbar: „Ich erlebe in meiner selbstständigen Arbeit, dass Patientinnen ganz und Patienten dringend einen Termin anfragen, weil es eben um eine chronische Erkrankung geht, wo es ein bisschen mehr braucht als einen kurzen Kontakt.“ Um diese Menschen adäquat betreuen zu können, müsse man die die spezialisierte Pflege ins Boot holt, und die verschiedene Berufsgruppen müssten enger zusammenarbeiten können. „Dazu braucht es Zeitressourcen und Personalressourcen, die wir nicht immer haben, und natürlich auch die Finanzierung.“

Eine App auf Rezept

Im benachbarten Deutschland ist Ende 2019 das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (Digitale-Versorgung-Gesetz, DVG) in Kraft getreten, das unter anderem die Möglichkeit vorsieht, „digitale Gesundheitsanwendungen“ (DiGAs) auf Kassenrezept verfügbar zu machen – primäre Zielgruppe: Menschen mit chronischer Erkrankung. Von der Masse der in den App Stores der großen Telekommunikationskonzerne angebotenen Apps unterscheiden sich DiGAs dadurch, dass sie einen vom deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kontrollierten Zulassungsprozess durchlaufen, der unter anderem die Zertifizierung als Medizinprodukt und den Nachweis der Datensicherheit sowie der klinischen Sicherheit und der Wirksamkeit beinhaltet. Die Verfahren zur Zulassung einer DiGA entsprechen somit hinsichtlich Sicherheit und Evidenzbasierung denen, die auch neue Medikamente durchlaufen müssen, sagt Peter Schwarz, Versorgungsforscher mit Schwerpunkt Diabetes in Dresden und einer der führenden für DiGA-Fachexperten. Derzeit (Oktober 2022) enthält das DiGA-Verzeichnis des BfArM rund 40 Anwendungen, darunter zwei für Menschen mit Diabetes.

Digitalisierung wird Berufsbilder verändern

Als in Österreich diabetologisch tätiger Arztes hält Thomas Wascher das DiGA-Konzept für einen „potenziell unglaublich großen Schritt nach vorne“. Die Interaktionszeit mit einem Menschen mit Typ-1-Diabetes in der Ambulanz, belaufe sich, wenn es keine Komplikationen gibt, auf rund zwei Stunden pro Jahr. „Die restlichen 365 Tage minus zwei Stunden ist er mit seiner Erkrankung allein. In dieser Zeit etwas zu haben, das das Management unterstützt, wäre ein wirklich wichtiger Schritt nach vorne.“ Christian Ciardi gibt zu bedenken, dass sich die Ressourcenprobleme im Gesundheitswesen durch Telemonitoring nicht lösen lassen, sieht aber das Potenzial digitaler Anwendungen: „Die Digitalisierung wird Berufsbilder verändern, so auch die Versorgung chronisch kranker Menschen.“

Diabetesberaterin Agnes Loidl plädiert dafür, die Bedürfnisse der Patient:innen nach Austausch und Empathie nicht aus den Augen zu verlieren. Elektronische Hilfsmittel könnten den menschlichen Kontakt nicht ersetzen. Außerdem seien die persönlichen Gespräche aller Beteiligten wichtig, um sich ein umfassendes Bild der konkreten gesundheitlichen Situation zu machen.

Digitale Gesundheitsanwendungen – ein Teil der Lösung

Auch Anschober hält die Digitalisierung für einen guten Teil der Lösung. Auch er betont, dass der persönliche Kontakt mit den Patienten nicht zu kurz kommen dürfe. Außerdem könne die DiGAs-Einführung nichts daran ändern, dass die Steuerung und die Strukturen im Gesundheitssystem weiter verbessert werden müssen. Dabei würde Anschober dafür plädieren, ein bis zwei Schwerpunkte zu setzen – beispielweise chronische Erkrankungen wie Diabetes sowie Long-Covid – und anhand dieser Erkrankungen zu versuchen, die Schwachpunkte im Gesundheitssystem anzugehen.

Was die konkrete Umsetzung betrifft, gibt sich Anschober vorsichtig optimistisch: „Wir haben Einiges an rechtlichem Rahmen schon realisiert, Einiges noch zu tun. Wenn der Rahmen steht, müssen wir einen Prozess aufsetzen, bei dem alle Player an einen Tisch kommen und wo eine Zieldefinition miteinander paktiert wird. Dann kann die Durchdringung angesichts des Bewusstseins, dass wir ein Problem haben, relativ flott gehen. Aber es wird ein Prozess sein, bei dem wir in unterschiedlichen Regionen auch mit unterschiedlichem Tempo in die Realisierung gehen. Wir können ja auch innerhalb Österreichs voneinander lernen.“

Hier können Sie die ganze Sendung ansehen:

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